St.Galler Fernwärme ist eine Erfolgsstory: Getragen vom Stimmvolk, vom Willen zur Energiewende – und von den Mitarbeitenden der St.Galler Stadtwerke. Sie überwinden dafür manche Hürde und garantieren, dass die Zukunft nachhaltiger wird – und das Zuhause nicht kalt.
Eigentlich ist alles ganz einfach. Fernwärme, so erläutert es uns Nermin Dizdarevic, «ist im Prinzip wie die Zentralheizung daheim. Die Stadt ist das Haus und die Gebäude sind die Zimmer darin.» Dizdarevic ist bei den St.Galler Stadtwerken (sgsw) Gesamtprojektleiter Fernwärme-Leitungsbau. Also einer jener vielen Menschen, die den komplizierten Teil übernehmen, damit es später daheim einfach wird. Einfach warm.
Die St.Galler Fernwärme ist ein Erfolgs- und ein Jahrhundertprojekt. Sie wird wesentlich dazu beitragen, die Energieversorgung der Stadt St.Gallen auf erneuerbare Energien umzustellen und die Versorgung CO2-neutral zu machen. Im November 2023 hiessen 86,6 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger den Kredit über 155 Millionen Franken für die Ausbauphasen drei und vier gut. Phase drei startet 2025. Diese plant bei den sgsw jenes Projektteam, von dem wir in der Fernwärmezentrale Waldau stellvertretend drei Männer treffen: neben Nermin Dizdarevic, Michael Stang und Roman Gmür.
Im Kehrichtheizkraftwerk (KHK) im Sittertobel wird Abfall in Energie verwandelt. Die St.Galler Stadtwerke sorgen dafür, dass diese Energie als 80 bis 130 Grad Celsius heisses Wasser durch die Stadt fliesst. An den Übergabestationen, sogenannten Wärmetauschern, wird die Wärme an Gebäudeheizungen und Warmwasserversorgung abgegeben und fliesst dann mit gut 55 Grad durch separate Rohre zurück. Fernwärmezentralen wie Waldau und Au im Westen sowie Lukasmühle und Olma im Osten steuern und heizen bei Bedarf zu.
Sogar Fachleute pilgern zur Waldau
So heizen Dizdarevic, Stang, Gmür und deren Kolleginnen und Kollegen St.Gallen ein. Die Fernwärmezentrale Waldau macht Eindruck: Zwölf Meter Innenhöhe, auf dem Dach Photovoltaik, drinnen gigantische Kessel und bald ein Blockheizkraftwerk, das neben Wärme auch Winterstrom erzeugen wird. Draussen oft Architekturfans. Oder Fachleute, «denn in der Schweiz sind wir Pioniere», so Stang, damals Waldau-Projektleiter. Als Projektleiter Fernwärmeausbau ist er quasi der Aussenminister des Projekts. Er hält Kontakt zur Politik, überblickt Aufträge, erklärt, ergänzt und erläutert. Seit 15 Jahren ist er dabei. «Bei uns sind fast alle sehr lange dabei. Weil es Freude macht. Wir ersetzen Öl und Gas, nutzen sonst verloren gehende Abfallenergie und machen Haushalte CO2-neutral», führt der 60-Jährige aus, «und 70 Prozent der Fernwärme erzeugen wir mit dem, was man früher weggeworfen hat.»
Die Topografie fordert die Fernwärme
Als sich der irische Mönch Gallus 612 an der Steinach niederliess, nutzten die Römer bereits seit Jahrhunderten die Fernwärme und erfanden nebenbei die Fussbodenheizung. Danach geriet sie in Vergessenheit – bis Ende des 19. Jahrhunderts. Ein Grund damals: Fernwärme verringerte Feuergefahr und Luftverschmutzung. In New York zum Beispiel heizt Fernwärme seit 1882. Einen Schub brachten die Ölkrisen der 1970er-Jahre. Heute ist das Interesse enorm. In St.Gallen war es das schon in den 1980er-Jahren, 1995 ging es mit der Fernwärme los. Nicht erfüllt hat sich die Hoffnung, mittels Geothermie-Bohrungen das Fernwärmenetz zu befeuern. Dieses Projekt blieb ohne Erfolg. St.Gallen legte die Fernwärme aber nicht zu den Akten: Die St.Galler Stadtwerke projektierten die Zukunft mit Erfolg neu.
In Zeiten der Energiewende ist Fernwärme heute vielerorts en vogue. In St.Gallen wurde das Potenzial früh erkannt (siehe Erklärbox). Bereits 1995 wurden Häuser im Westen mit Wärme vom KHK versorgt. 2010 folgte eine erste Ausbauetappe; derzeit endet die zweite. Aktueller Stand: 65 Kilometer Leitungsnetz, 161 Gigawattstunden Wärme für 950 Fernwärme-Übergabestationen. 2025 startet die dritte Phase: das dritte Viertel der Netzausdehnung. Zum Abschluss der vierten Phase «Verdichtung», also Anschluss weiterer Liegenschaften im bestehenden Gebiet, sollen 320 Gigawattstunden die Stadtteile im Talboden heizen.
«Im Energiekonzept 2050 der Stadt St.Gallen ist die Fernwärme der grösste Hebel», betont Stang. Ein Hebel, der topografisch nicht überall hebeln kann. Die Lage zwischen Rosen- und Freudenberg ist fernwärmetechnisch eine Herausforderung. Da ist die Länge des Tals in Ost-West-Richtung und vor allem sind da die Höhenunterschiede: Die Stadt liegt auf 669 Meter über Meer (Bahnhofplatz), das Stadtgebiet reicht von 496 Meter (Goldachtobel) bis 1074 Meter (im Birt). «Das Problem ist das Eigengewicht des Wassers», so Stang. «An der tiefsten Stelle ist der Druck am höchsten. Es gibt hier Limiten, die wir aus ökonomischer Sicht nicht verschieben können. Unser Konzept ist realistisch: Fernwärme macht sehr viel, aber nicht überall Sinn.»
Textalternative zum Bild: Michael Stang (60) ist Projektleiter Fernwärmeausbau. - neues Fenster
Bei uns muss niemand frieren. Wir haben Redundanzen.
Höchste Versorgungssicherheit garantiert
«Deshalb gehen wir nur bis 700 Meter», ergänzt Roman Gmür. Der Teilprojektleiter Fernwärmezentralenbau sorgt wie weitere Mitarbeitende dafür, dass stets genug Wärme produziert wird. «In der Hügelzone sind Wärmepumpen oder Nahwärme-Verbunde sinnvoller», fügt Stang an, «das ist auch eine Frage der Produktionskapazität.» Bis in 15 Jahren sollen sich im Fernwärmegebiet alle anschliessen können – denn Fernwärme ist je effizienter, je mehr mitmachen. Steht heute Heizungsersatz an, aber ist die Fernwärme noch zu fern, suchen die sgsw mit Eigentümern Zwischenlösungen.
Ist Fernwärme auch versorgungssicher? «Bei uns muss niemand frieren», sagt Gmür mit der Gewissheit des Ingenieurs, «wir haben Redundanzen: Würde eine Fernwärmezentrale ausfallen, hätten wir in der kältesten Winternacht trotzdem noch 70 Prozent der Wärme. Wir haben vier Netzpumpen – zwei würden zur Überbrückung reichen. Und wir haben ein vermaschtes Ringnetz. Müssten wir einen Netzstrang abstellen, blieben die übrigen Netzteile trotzdem versorgt.»
Manchmal braucht Leitungsbau Diplomatie
Natürlich gibt es auch Hürden. «Jetzt graben die da schon wieder.» ist ein Satz, den Nermin Dizdarevic, der Gesamtprojektleiter Leitungsbau, oft bei Baustellenbesuchen hört. Er ist einer jener Menschen, die garantieren, dass der Verkehr trotzdem läuft, Busse weiterfahren, Tiefbauamt oder Stadtgrün vielleicht gleich den neuen Asphalt oder die neue Bepflanzung miterledigen – eine Aufgabe voller Diplomatie. Aber wieso graben die da schon wieder? «Wir können nicht gleichzeitig am Strom im Trottoir sowie Kanalisation und Fernwärme in der Strasse arbeiten: Es gäbe dort kein Durchkommen mehr», sagt der 44-Jährige.
Hinzu komme, dass es bis zu 100 Meter lange Gräben braucht, «weil die Rohre vorgespannt werden müssen.» Gibt es Beschwerden? «Selten. Es ist menschlich, dass niemand eine Baustelle vor der Haustür mag. In der Regel treffen wir auf Wohlwollen. Die Leute wissen, dass wir einen Beitrag für eine bessere Umwelt und Zukunft für unsere Kinder leisten.» Als wir die Fernwärmezentrale wieder verlassen, deutet Dizdarevic auf die Waldau: «Hier drin sind auch das Salzlager für den Winterdienst und der Quartierverein untergebracht.» St.Gallen halt: Man spannt zusammen. Zusammenrücken muss man nicht: Warm ist es mit Fernwärme auch so.