Bevor neue Leitungen für Wasser, Gas oder Fernwärme verlegt werden können, sind detaillierte Projektpläne erforderlich. Serife Gümüs arbeitet bei den St.Galler Stadtwerken als Zeichnerin. Sie plant und zeichnet die neuen Leitungsführungen und denkt dabei auch an Sicherheit, Umwelt und Verkehr.
Die Wetterprognosen haben einen warmen Tag vorausgesagt. Gut, dass die Baustelle an der Oberen Reherstrasse, eine kleine Seitenstrasse im Osten der Stadt St.Gallen, an diesem Vormittag noch im Schatten liegt. Serife Gümüs beugt sich über die rot-weiss-gestreifte Bauabschrankung, zeigt auf die neuen Leitungen in der Baugrube und erklärt: «Das ist die Hauptleitung, von der die Anschlussleitungen abzweigen.» Sie macht Fotos für die Projektakte, faltet den Projektplan auseinander und vergleicht die Lage der neu verlegten Leitungen mit dem geplanten Verlauf.
Projekte klug kombinieren
Die Neugestaltung der Oberen Reherstrasse ist für die St.Galler Stadtwerke (sgsw) eine gute Gelegenheit, die maroden Wasserleitungen aus dem Jahr 1978 zu erneuern und neue Fernwärmeleitungen zu verlegen. An diesem Morgen installieren die Rohrnetzmonteure der sgsw den letzten Wasserhausanschluss und eine externe Leitungsbaufirma ist mit der Verlegung der Fernwärmeleitungen beschäftigt. «Wenn immer möglich nutzen wir Synergien mit Projekten von Koordinationspartnern», erklärt Serife Gümüs.
Seit März 2024 arbeitet Serife Gümüs bei den sgsw als Projektmitarbeiterin und Zeichnerin. Ihre Hauptaufgabe ist das Zeichnen von Projektplänen für Wasser-, Gas- und Fernwärmeleitungen. Gezeichnet wird heute ausschliesslich digital mit einem CAD-Programm. «In der Berufsschule habe ich aber noch gelernt, wie man von Hand zeichnet», lacht die 24-Jährige.
Koordination im Untergrund
Ein erster Entwurf für den Verlauf einer Leitung sei schnell erstellt: «Innerhalb von ein oder zwei Tagen habe ich das Grundgerüst gezeichnet.» Viel aufwändiger ist die Vorarbeit: Zunächst muss Serife Gümüs die Daten der amtlichen Vermessung und von den jeweiligen Werken digital einholen. Aus diesen Daten erstellt sie im CAD-Programm einen detaillierten Plan mit allen sich bereits im Boden befindlichen Leitungen: Neben Wasser-, Gas- und Fernwärmeleitungen befinden sich im Untergrund auch Abwasser-, Strom- und Kommunikationsleitungen sowie private unterirdische Infrastruktur. «Mit diesen Informationen sehe ich, wo es Platz für eine neue Leitung gibt», erklärt die Zeichnerin und ergänzt: «Je mehr Werke involviert sind, desto knapper ist der Platz im Untergrund und desto mehr muss ich koordinieren.» Aus Kostengründen bleibt die alte Leitung im Normalfall im Untergrund. Sie wird nur entfernt, wenn sie die Bauarbeiten behindert oder nicht genügend Platz für die neue Leitung vorhanden ist.
Den Entwurf des Projektplans gleicht Serife Gümüs immer vor Ort mit den tatsächlichen Gegebenheiten ab. Sie ist darum regelmässig draussen unterwegs und prüft beispielsweise, wo eine Hauszuleitung am besten in die Liegenschaft geführt werden kann, oder ob die Grösse und Lage der Schächte mit den gelieferten Geodaten übereinstimmen. Dabei kontrolliert sie auch die sichtbare Infrastruktur vor Ort. All diese Punkte muss sie beim Projektieren einer neuen Leitung berücksichtigen.
Austausch mit Fachstellen
Nachdem sie eine grobe Linienführung gezeichnet hat, geht der Projektplan intern und extern in die Vernehmlassung, damit die jeweiligen Fachstellen sowie ihr Vorgesetzter Stellung dazu nehmen können. Bei Wasserleitungsprojekten muss der fertige Projektplan auch von der Feuerwehr abgesegnet werden – die sgsw erhalten Subventionen von der Gebäudeversicherung des Kantons St.Gallen (GVSG) für die Wasserversorgung. «Ein gut geplantes und gewartetes Wassernetz ist nicht nur wichtig für die Trinkwasserversorgung, sondern auch für die Brandbekämpfung», sagt die Zeichnerin.
Beim Zeichnen der Leitung muss sie nicht nur die Situation unter der Strasse im Blick haben, sondern auch das Geschehen auf der Strasse. Damit die Durchfahrt für Anwohnende oder die Blaulichtorganisationen auch während der Bauarbeiten jederzeit gewährleistet ist, braucht es mindestens einen dreieinhalb Meter breiten Fahrstreifen. Eine Sperrung einer Strasse wäre für die Nutzenden mit Umständen verbunden und soll darum möglichst vermieden werden.
Sobald das Projekt abgeschlossen ist und alle Rechnungen im Haus sind, kann sie die Abrechnung erstellen und alle Unterlagen archivieren – auch das gehört zu ihrem Aufgabenbereich.
Ein gut geplantes und gewartetes Wassernetz ist nicht nur wichtig für die Trinkwasserversorgung, sondern auch für die Brandbekämpfung.
Auch Wurzeln zählen
Ein weiteres wichtiges Thema sind die Bäume. Serife Gümüs zeigt auf den Plan der Oberen Reherstrasse. Die bestehenden Bäume sind grau eingezeichnet, neue pinkfarbig. Der Verlauf der neuen Wasserleitung ist blau und derjenige der Fernwärme orange dargestellt. «Beim Projektieren der Leitung muss ich darauf achten, dass die Rohre genug Abstand zu den Baumwurzeln haben», erklärt sie. Allenfalls muss eine Leitung tiefer verlegt und mit einem Schutzrohr versehen werden, das gleichzeitig Leitung und Baum schützt, oder die Grabungsarbeiten werden von Baumspezialisten überwacht.
Die Natur spielt nicht nur bei ihrer Arbeit eine Rolle, sondern auch in der Freizeit: Diese verbringt Serife Gümüs am liebsten draussen. Gerne spaziert sie im Grünen und geht jeden Abend zu Fuss nach Hause. Sogar ihre Pausen verbringt sie spazierend, dann aber durch die St.Galler Altstadt. Noch gibt es für sie in St.Gallen viel Neues zu entdecken, denn erst vor kurzem ist sie von Zürich in die Ostschweiz gezogen.
Aufgewachsen in Schlieren, begann sie in Zürich bei einem auf Hochbau spezialisierten Ingenieurbüro ihre Ausbildung zur Zeichnerin Fachrichtung Ingenieurbau. Bei einem Austauschbüro, bei dem sie dann auch ihre Lehre abschloss, erhielt sie Einblick in den Tiefbau – und war begeistert: «Im Tiefbau ist jede Situation anders. Beim Hochbau hingegen sind die Projekte grösstenteils ähnlich.» Was aber überall gleich ist, ist der tiefe Frauenanteil. Für Serife Gümüs kein Problem. «Seit meiner Lehre kenne ich nichts anderes», sagt sie und ergänzt mit einem Lachen: «Im jetzigen Team bin ich sogar die einzige Frau.»
An ihrer Arbeit gefällt ihr, dass es eine Kombination ihrer Stärken ist: Zahlen, Geometrie und Naturwissenschaften. Ausserdem kann sie das tun, was sie schon immer gerne macht: zeichnen. «Sobald ich einen Stift in der Hand habe und ein Papier vor mir liegt, beginne ich mit Zeichnen. Es lenkt mich ab und ich kann meine Gedanken frei fliessen lassen.» Das technische Zeichnen am PC macht ihr ebenfalls Freude und auch hier kann sie bis zu einem gewissen Punkt ihre eigene Handschrift einbringen: «Der Plan muss in erster Linie korrekt und zugleich klar und übersichtlich sein.» Serife Gümüs zeichnet nicht nur mit Sorgfalt und Weitsicht Leitungen, sondern auch ihren eigenen Weg: Im August hat sie die Zweitweg-Matura begonnen, um sich neues Wissen anzueignen.
