Die St.Galler Stadtwerke verlegen zurzeit auf dem Marktplatz – einer stadtgeschichtlich und archäologisch wertvollen Zone – neue Leitungen für das Fernwärmenetz. Wie wichtig dabei eine frühzeitige und enge Zusammenarbeit mit der Kantonsarchäologie ist, zeigen die neusten Funde beim Blumenmarkt.
Helm, orange Bekleidung und festes Schuhwerk: Die Frauen und Männer in der Baugrube beim Blumenmarkt sehen aus wie Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter. Doch das sind sie nicht. Schaut man genau hin, fällt auf, dass sie nicht mit grossen Werkzeugen und Maschinen hantieren, sondern mit kleinen Schaufeln, Pickeln und Kellen. Die vier Frauen und Männer sind Mitarbeitende der St.Galler Kantonsarchäologie und haben von Anfang bis Mitte Juni intensiv an diesem Abschnitt der Baugrube gearbeitet. «Wir haben im Boden unterschiedliche Strukturen mit verschiedenen Verfüllungsschichten gefunden sowie einige Keramikscherben, die aus dem 12./13. Jahrhundert stammen», sagt Marco-Joshua Fahrni, Grabungsleiter der Kantonsarchäologie.
«Aufgrund des Schichtenverlaufs haben wir zunächst vermutet, dass hier einmal ein Grubenhaus war, das als Webkeller oder für andere handwerkliche Tätigkeiten diente.» Grubenhaus ist die Bezeichnung für Gebäude, die ganz oder teilweise in den Boden eingetieft sind. Archäologisch lassen sich diese Grubenhäuser durch Pfosteneinbauten in Verbindung mit Verfärbungen in den Bodenschichten nachweisen. «Bisher hat sich unsere Annahme nicht bestätigt», sagt Marco-Joshua Fahrni. «Aber unsere Arbeit geht weiter, wenn auch nicht mehr in dieser Baugrube, sondern später im Büro, wo wir alles, was wir gefunden haben, genauestens untersuchen werden.»
Genug Zeit einplanen
Seit Oktober 2023 wird auf dem Marktplatz für die Versorgung gearbeitet. Vom Oberen Graben bis zum Burggraben erstellen die sgsw neue Fernwärmeleitungen. Die Fernwärme ist eine wichtige Massnahme, um die Ziele des städtischen Energiekonzepts 2050 zu erreichen und die Wärmeversorgung zu dekarbonisieren. Bei solchen Arbeiten sind je nach Gebiet auch Mitarbeitende der Archäologie des Kantons St. Gallen involviert. «Die Altstadt ist eine archäologische Schutzzone», sagt Fabio De Mattia, sgsw-Projektleiter der Baustelle am Marktplatz, «deshalb ist hier eine Zusammenarbeit mit der Kantonsarchäologie ein absolutes Muss.» Diese Zusammenarbeit beginnt aber nicht erst bei den Ausführungen der Bauarbeiten, sondern bereits in der Vorbereitung. «Wir sind von Anfang an in die Planung miteinbezogen worden», sagt Marco-Joshua Fahrni. Die Zusammenarbeit klappe sehr gut, sind sich beide Seiten einig.
Aufgrund von alten Plänen und verschiedenen Vorabklärungen wie Sondierungen oder Kernbohrungen hatten die Mitarbeitenden der Kantonsarchäologie bereits eine Grundahnung, wo sie etwas finden könnten. Dementsprechend habe man bereits bei der Vorbereitung auf neuralgische Punkte hinweisen und mögliche Unterbrüche der Aushubarbeiten einplanen können, so der Grabungsleiter der Kantonsarchäologie.
Wie lange diese einzelnen «Baupausen» dauern werden, war schwierig zu prognostizieren. «Wir können alles noch so gut und detailliert planen. Aber Konkretes können wir erst dann sagen, wenn die Grube offen ist», sagt Regula Ackermann, stellvertretende Leiterin der Kantonsarchäologie. Deshalb war es für den Baustellenleiter der sgsw wichtig, genug Zeit für die Leitungsarbeiten am Marktplatz einzuplanen. Den Anstössern keinen verbindlichen Zeitrahmen geben zu können, sei aber nicht immer einfach. «Ich kann gut nachvollziehen, dass sie wissen möchten, wann die Bauarbeiten zu Ende sind», so Fabio De Mattia. «Deshalb schätze ich das grosse Verständnis, das die Anstösser uns gegenüber aufbringen, umso mehr.»
Vorbildliche Zusammenarbeit
Bei der Baugrube beim Blumenmarkt dauerte der Unterbruch beinahe drei Wochen. «Das Areal Marktplatz/Bohl/Blumenmarkt liegt in einer stadtgeschichtlich und archäologisch äusserst wertvollen Zone», sagt Regula Ackermann. «Hier treffen die Kernstadt und die im 15. Jahrhundert ummauerte nördliche Vorstadt aufeinander.» Über diese Vorstadt sei bislang wenig bekannt gewesen, was sich mit den Funden am Blumenmarkt nun ändere. «Sie sind ein erster Nachweis von Machenschaften ausserhalb der Stadtmauer St.Gallens im 13. oder gar 12. Jahrhundert», sagt Marco-Joshua Fahrni. «Wir erhalten dadurch erstmals eine Vorstellung davon, wie sich der nördliche Teil der Stadt entwickelt hat.» Ein überraschender Fund also? «Schon etwas», sagt er und schmunzelt. Aber nicht nur die Kantonsarchäologie freut sich über die neuesten Erkenntnisse, sondern auch der sgsw-Baustellenleiter. «Diese Ausgrabungen aus nächster Nähe mitzuverfolgen und von deren historischer Relevanz zu hören, ist schon sehr aufregend», sagt er.
Aussergewöhnlich ist für ihn bei dieser Bauphase auch, dass die begleitenden Archäologie-Mitarbeitenden den Lead haben. «Sobald sie etwas entdecken, stoppen wir unsere Arbeiten und sie übernehmen das Ruder. Wir machen erst dann weiter, wenn sie uns grünes Licht geben.» Für Regula Ackermann ist diese Vorgehensweise vorbildlich. «Durch die enge Zusammenarbeit ist es gelungen, beim Fund sofort zu reagieren und gemeinsam eine konkrete Lösung zu finden – auch, um so wenig Zeit wie möglich zu verlieren.» Eine transparente Kommunikation ist ebenfalls gegenüber den Bauunternehmen von grosser Bedeutung. «Wir haben die Bauarbeiten so ausgeschrieben, dass mit Unterbrüchen und Verzögerungen zu rechnen ist», sagt Fabio De Mattia. Bis jetzt hätten die Partner-Baufirmen diese «Pausen» grösstenteils mit anderen Arbeiten überbrücken können. Dafür brauche es manchmal auch etwas Glück. «Als wir beispielsweise den Stopp bei der Grube am Blumenmarkt hatten, gab es einiges auf der anderen Seite des Leitungsbaus, beim Brühltor, zu tun.»
Diese Ausgrabungen aus nächster Nähe mitzuverfolgen und von deren historischer Relevanz zu hören, ist schon sehr aufregend.
Weiterer Fund bei Acrevis Bank
Die Funde beim Blumenmarkt sind nicht die ersten beim Ausbau des Fernwärmenetzes am Marktplatz. Bereits im Herbst 2023 wurden bei der Acrevis Bank, dort wo früher das alte Rathaus seinen Platz hatte, fünf Gräber mit Körperbestattungen gefunden. Diese stammen gemäss Analysen aus dem späten 7. bis 9. Jahrhundert. «Die Entdeckung ist eine grosse Neuigkeit», sagt Regula Ackermann, «denn zwischen Klosterareal und St.Mangen waren bislang keine Bestattungen aktenkundig.» Zudem wurden im Fernwärmegraben mehrere Mauerfragmente, wohl Reste des alten Rathauses und des Kornhauses, gefunden. Auch hier mussten die Arbeiten am Fernwärmenetz unterbrochen werden. Trotzdem sind die sgsw mit dem Ausbau auf Kurs. Die Leitungsarbeiten am auf dem Marktplatz dauern voraussichtlich noch bis August 2024.