Die Fernwärme ist ein St.Galler Generationenprojekt. Seit mehr als 40 Jahren arbeiten die St.Galler Stadtwerke daran, überschüssige Wärmeenergie aus dem Verbrennen von Abfall für das Heizen von Gebäuden in der Stadt St.Gallen zu verwenden. Was in den 1980er-Jahren mit einem lokal begrenzten Verteilnetz im Westen der Stadt seinen Anfang nahm, ist in den vergangenen Jahren in weite Teile der Stadt hinein gewachsen. In den nächsten Jahren schliessen die St.Galler Stadtwerke die ersten beiden Ausbauetappen ab und starten gleichzeitig die beiden letzten.
Die für St.Gallen ungewohnten Projektdimensionen entsprechen der Bedeutung der Fernwärme für die Stadt. Die Stadt St.Gallen hat das Ziel, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu werden und den CO2-Ausstoss auf Netto-Null zu reduzieren. Im Jahr 2020 hat die St.Galler Stimmbevölkerung dies in der Gemeindeordnung verankert. Das städtische Energiekonzept 2050 zeigt die Strategie und Wege auf, wie die Stadt St.Gallen dieses Ziel erreichen kann. Ein Bereich des Konzepts ist die Wärme – neben Mobilität, Elektrizität sowie Konsum und Ressourcen. Die Fernwärme spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, künftig gänzlich auf fossile Energieträger verzichten zu können. Mehr als 40 Prozent des gesamten Energieverbrauchs der Stadt entfallen auf die Gebäudewärme. Statt mit emissionsreichen Energieträgern wie Erdöl oder Gas soll dieser Wärmebedarf hauptsächlich mit Fernwärme gedeckt werden.
Eine riesige Zentralheizung
Unser Kehricht wird im Kehrichtheizkraftwerk St.Gallen verbrannt (1). Durch die Verbrennung entsteht Dampf, mit dem Wasser auf 80 bis 130 Grad Celsius aufgeheizt und auch Strom produziert wird (2). Über ein gut isoliertes Leitungsnetz wird das heisse Wasser zu den angeschlossenen Haushalten und Betrieben transportiert (3). Die Energie wird über Wärmetauscher an das interne Heizungssystem und an die Warmwasserversorgung abgegeben (4). Das auf etwa 55 Grad Celsius abgekühlte Wasser fliesst zu einer Fernwärmezentrale zurück. Dort wird es wieder aufgeheizt und der Kreislauf schliesst sich (5). Zum Abdecken von Spitzenlastzeiten liefern Fernwärmezentralen zusätzlich Energie und tragen zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit bei (6).

Das Konzept der Fernwärme ist schnell erklärt. Patrick Flammer, Bereichsleiter Wasser, Gas und Wärme der St.Galler Stadtwerke und damit zuständig für die Fernwärme, bedient sich des Bilds einer riesigen Zentralheizung. Anstatt dass jeder Haushalt in der Stadt für sich auf irgendeine Art selbst Wärme produziert, übernimmt dies eine Zentrale. Dabei wird Wasser erhitzt und über ein Leitungsnetz den angeschlossenen Gebäuden zur Verfügung stellt. Solche sogenannt thermische Netze sind abhängig von grossen Wärmegeneratoren. Ein solcher steht seit Anfang der 1970er-Jahre im Sittertobel. Im Jahr 1972 war die erste städtische Kehrichtverbrennungsanlage in der Au in Betrieb genommen worden. Die Anlage hatte man vorausschauend geplant. Ein nachträglicher Einbau der für die Dampferzeugung notwendigen Einrichtungen war bewusst offengehalten worden. Mit dem Volksentscheid zum Bau einer Fernwärmezentrale im Jahr 1973 wurde die Kehrichtverbrennungsanlage dann nach und nach zum eigentlichen Kehrichtheizkraftwerk, kurz KHK, wie es seit 2007 offiziell genannt wird. 1986 ging das Fernwärmenetz in Betrieb und 1997 bezogen bereits Liegenschaften vom Wolfganghof bis ins Sömmerli heisses Wasser und Raumwärme aus der ersten Fernwärmezentrale Au.

Flammer spricht von Skalierungseffekten, wenn er die Geschichte des Ausbaus des städtischen Fernwärmenetzes erklärt: «Je mehr mitmachen, desto günstiger wird das Angebot.» Das Projekt war damit von Anfang an auf einen grösstmöglichen Ausbau ausgelegt. Je höher die Zahl an angeschlossenen Verbraucherinnen und Verbrauchern und je grösser die Nachfrage, desto mehr Wärme muss allerdings auch zur Verfügung gestellt werden. Dies bedeutet, dass die St.Galler Stadtwerke neue Wärmequellen erschliessen müssen, um genügend Fernwärme über ein immer grösseres Netz zu liefern.
Flexibel in der Ausgestaltung
Geothermie und Erdwärme hätten einen Teil der Energie für die Fernwärmeversorgung liefern sollen. Dieses Projekt musste im Jahr 2014 jedoch eingestellt werden. Das Generationenprojekt Fernwärme war nach dem Wegfall dieser Option aber nicht am Ende. Flammer bezeichnet es als Eigenheit und grosse Stärke, dass das Projekt in seiner konkreten Ausgestaltung stets flexibel bleibt und offen ist für sich ändernde Rahmenbedingungen, etwa Energiepreise oder technologischen Fortschritt – auch wenn die grossen Linien, das angestrebte Ziel eines nachhaltigen, möglichst umfassenden Fernwärmenetzes für die Stadt als Vorgabe unverändert geblieben sind.
Sichtbarer Ausdruck dieser Flexibilität im Stadtraum sind heute die Fernwärmezentralen. Architektonisch ansprechend verpackt, verkörpern sie das sonst in der Stadttopographie unsichtbare Fernwärmenetz. Diese Zentralen ermöglichen den weiteren Ausbau des Netzes, liefern mit ihren Blockheizkraftwerken zusätzliche Energie, stellen die Versorgungssicherheit auch an besonders kalten Wintertagen sicher und können bei einem Ausfall des KHK im Verbund mit den anderen Zentralen die Wärmeversorgung aufrechterhalten. Diese sogenannt dezentralen Erzeuger sind notwendig, weil trotz Ausbauten und Effizienzsteigerungen an den Anlagen im Sittertobel mit der Verbrennung von jährlich rund 75'000 Tonnen Abfall allein nicht genug Wärme für das wachsende Netz bereitgestellt werden kann.
Heute stellt das Fernwärmenetz für knapp 21'000 Wohnungen und Gewerbeobjekte rund 160 Gigawattstunden Wärme für Heizung und Warmwasser zur Verfügung. Bis zum Jahr 2050 soll das Netz die doppelte Menge Wärme durch die Stadt transportieren. Die weiteren Ausbauphasen sehen denn auch eine zusätzliche Erweiterung der Kapazitäten vor. 70 Prozent der Wärme stammen aus dem Verbrennen von Abfall, die restlichen 30 aus den Fernwärmezentralen. Während diese heute noch mit Gas, Öl und Holz betrieben werden müssen, soll die Wärme bis zum Jahr 2050 ganz im Sinne des städtischen Energiekonzepts CO2-neutral produziert werden. Die St.Galler Stadtwerke setzen dabei neben biogenem und synthetischem Gas vor allem auch auf neue Anlagen, die auf regionales Holz und Altholz als Energieträger zurückgreifen.
Je mehr mitmachen, desto günstiger wird das Angebot.
Von KI berechnetes Netz
Bis spätestens 2040 wird mit diesem schrittweisen Ausbau fast die gesamte Stadt in der Talsohle bis auf die technische Grenze von 700 Metern über Meer – das Netz ist auf einen Druckunterschied angewiesen – mit Fernwärme erschlossen sein. Flammer spricht von einem «Netz aus Arterien und Venen», welches das Stadtgebiet durch- bzw. unterquert. Leitungen von rund 65 Kilometer Länge sind es heute. Der Vergleich mit dem menschlichen Körper ist aufgrund seiner Komplexität zutreffend. Zur Regelung der Wärmebereitstellung und des Vor- und Rückflusses im System haben die St.Galler Stadtwerke einen digitalen Zwilling entwickelt, der jedes Rohr und jedes Ventil digital abbildet und ansprechbar macht. Dies ermöglicht eine intelligente Steuerung des Systems, in dem produziert wird, was gerade nötig ist, wodurch keine Energie verschwendet wird. Trotz aller technischer Komplexität und Digitalisierung bleibt das Geschäft der Fernwärme in St.Gallen dennoch ein handfestes. Das Generationenprojekt ist letztlich auf den Rückhalt in der Bevölkerung, auf Kundinnen und Kunden angewiesen

Für Flammer und seine Mitarbeitenden bei den St.Galler Stadtwerken bedeutet dies abseits von der technischen Realisierung Informationsarbeit, potenzielle Kundinnen und Kunden für diese ressourcenschonende Lösung zu gewinnen, teilweise Jahre bevor ein Anschluss überhaupt realisiert wird. Es ist eine Herausforderung für ein Projekt, von dem man in der Regel nur aufgerissene Strassen und Baulärm mitbekommt. Doch es gelingt mit Erfolg: Kein anderes Projekt erzielt in regelmässigen Abständen an der Urne derart hohe Zustimmungsraten wie die Fernwärme; und das bei beträchtlichen Investitionssummen. Die Fernwärme in der Stadt ist damit das beste Beispiel dafür, dass «gemeinsam wirkt!» – getreu dem Motto des Energiekonzepts 2050 für eine klimaneutrale Stadt.